„Ich [hätte] in jedes Haus gehen … können“

24 August 2018

Am 11. März 1898 hielt die Erste Präsidentschaft der Kirche Jesu Christi eine turnusmäßige Besprechung ab, die sich noch als sehr bedeutsam für die Zukunft erweisen sollte. Präsident Wilford Woodruff und seine Ratgeber, Joseph F. Smith und George Q. Cannon, hatten kurz zuvor ein paar Briefe von Missionspräsidenten aus aller Welt erhalten, die um weibliche Missionare baten.1 Einer dieser Briefe kam von Joseph W. McMurrin von der Präsidentschaft der Europäischen Mission, der berichtete, es habe „Fälle [gegeben], in denen unsere Schwestern in England Aufmerksamkeit erlangen konnten, wo man den männlichen Missionaren kaum Gehör geschenkt hätte“. In dem Brief hieß es weiter, er glaube, „wenn man eine Anzahl aufgeweckter, intelligenter Frauen nach England auf Mission beriefe, wären die Ergebnisse wohl ausgezeichnet“2

„Wenn man eine Anzahl aufgeweckter, intelligenter Frauen nach England auf Mission beriefe, wären die Ergebnisse wohl ausgezeichnet.“

Joseph W. McMurrin
Präsidentschaft der Europäischen Mission

Nach einigen Gesprächen beschloss die Erste Präsidentschaft, alleinstehende Missionarinnen zu berufen und einzusetzen und ihnen – erstmals in der Geschichte der Kirche – eine Bescheinigung auszustellen, mit der sie befugt waren, das Evangelium zu verkünden. Dieser Schritt stellte den Beginn einer neuen Ära dar – für die Missionsarbeit der Kirche Jesu Christi und auch für die Frauen in der Kirche.

Wäre Elizabeth McCune nicht gewesen, hätte Präsident McMurrin diesen Brief möglicherweise nie geschrieben.

Elisabeth McCune, geb. Claridge, kam 1852 in England zur Welt und wuchs in Nephi auf, einer Landgemeinde in Utah. Als sie 16 Jahre alt war, folgte ihr Vater Samuel dem Aufruf von Brigham Young, als einer der Ersten die Mission „Muddy“ zu besiedeln, eine kahle Gegend in der Wüste, die später einmal zum Süden von Nevada gehören sollte. Als sie einige Jahre darauf in den Norden zurückkehrte, heiratete sie ihre Jugendliebe, den vielversprechenden jungen Geschäftsmann Alfred W. McCune. Durch eine erstaunliche Serie von Geschäftserfolgen wurden Alfred und Elizabeth McCune innerhalb kürzester Zeit zu einer der reichsten Familien Utahs.

Dieser Reichtum kostete Schwester McCune jedoch einiges: Alfred ließ sich mehr und mehr von seinen Geschäften vereinnahmen und distanzierte sich dabei von der Kirche. Schwester McCune war deswegen am Boden zerstört, doch sie blieb ihrem Mann eine loyale Gefährtin und betete, dass sein Glaube schließlich wieder aufleben möge. Was sie anging, sah sie in ihrem Wohlstand eine treuhänderische Verpflichtung. Sie sorgte dafür, dass ihre Familie der Kirche großzügige Spenden zukommen ließ und dass bedürftige Freunde und Angehörige Unterstützung erhielten. Außerdem nutzte sie ihre Zeit – soweit die Umstände es zuließen – dazu, in der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung für Junge Damen Gutes zu tun und eine gewiefte Genealogin zu werden.

Eine Rundreise durch Europa

Im Februar 1897 bereiteten die McCunes sich auf eine ausgedehnte Rundreise durch Europa vor. Ihre Reise sollte sie nach England, Elizabeth McCunes Heimatland, führen sowie auch nach Frankreich und Italien. Während die Familie vor allem eine Menge Sehenswürdigkeiten besichtigen wollte, betrachtete Schwester McCune die Reise auch als Chance, ihre genealogische Forschung voranzubringen.

„Dein Verstand wird so klar sein wie der eines Engels, wenn du die Grundsätze des Evangeliums erläuterst.“3

Segensworte Lorenzo Snows an Elizabeth McCune

Da sie diese Forschung als eine religiöse Aufgabe ansah, suchte sie Präsident Lorenzo Snow auf. Sie wollte einen Priestertumssegen erhalten, ehe sie sich auf die Reise begab. Seinen Worten an sie war sogar noch ein weiterer religiöser Sinn zu entnehmen: „Neben anderen schönen Verheißungen sagte er: ‚Dein Verstand wird so klar sein wie der eines Engels, wenn du die Grundsätze des Evangeliums erläuterst.‘“4 Wie bedeutsam dieser Satz war, wurde für Schwester McCune noch offenkundiger, als sich auf ihrer Europareise bemerkenswerte Ereignisse zutrugen.

Zum Zeitpunkt ihrer Reise war Elizabeth McCune 45 Jahre alt und Mutter von sieben Kindern. Ihre vier jüngsten Kinder5 reisten mit ihr, und sie freute sich schon sehr darauf, ihren 19-jährigen Sohn Raymond wiederzusehen, der gerade in Großbritannien auf Mission war. Nach ihrer Ankunft in England mietete die Familie McCune ein Haus in dem beliebten Ferienort Eastbourne. Das Haus „war groß und geräumig, das Grundstück weitläufig und schön“6. Schwester McCune lud Raymond und einige andere Missionare in der Gegend ein, bei ihnen zu wohnen.

Mit ihrer Tochter Fay begleitete sie regelmäßig die Missionare zu deren Straßenversammlungen an der Strandpromenade von Eastbourne. Sie sangen Kirchenlieder, um die Aufmerksamkeit der Menge zu wecken, und hielten die Bücher und Hüte der Missionare, während diese predigten.7 Nach solchen Versammlungen luden die Missionare diejenigen, die Interesse zeigten, ein, sich in Grange Gardens Nr. 4 bei ihnen zu melden, wo die McCunes ihre vorübergehende Bleibe hatten. Das rief unvermeidlich erschrockene, überraschte Blicke hervor. Schließlich waren Mormonenmissionare üblicherweise weitaus bescheidener untergebracht.

Schwester McCune machte bei solchen Straßenversammlungen und wenn sie die Missionare begleitete und an den Haustüren Broschüren verteilte8 die Erfahrung, dass sie einem gelegentlichen verächtlichen Blick furchtlos standhalten konnte. Sie hätte nur gerne beim Verkünden des Evangeliums eine noch aktivere Rolle gespielt. Sie sagte, sie hätte „manchmal den brennenden Wunsch, selbst zu sprechen, weil sie das Gefühl habe, sie könne als Frau mehr Aufmerksamkeit wecken als die jungen Männer und somit Gutes tun“. Andererseits machte sie sich Sorgen, dass sie völlig versagen könnte, wenn ihr dies gewährt würde –auch wenn sie sich brennend einen Erfolg wünschte. Eine solche Gelegenheit sollte sich ergeben, und zwar früher, als sie es vielleicht erwartete.

„Der berüchtigte Jarman“

In den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts zog ein ehemaliges Mitglied der Kirche namens William Jarman durch ganz England und warb für sein gerade veröffentlichtes, kirchenfeindliches Buch. Seine ungebremsten Angriffe auf die Kirche und skandalösen Behauptungen über das Leben in Utah verursachten nicht nur deshalb Aufregung, weil sie die Sensationsgier schürten, sondern schienen auch dadurch gestützt und bestätigt zu werden, dass er als ehemaliges Mitglied ja sozusagen ein Insider war. Kurz gesagt, stellte er ein großes Problem für die Kirche dar in Hinblick darauf, wie sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.9 Seine Behauptungen über die Mormonenfrauen und deren Rolle waren besonders nachteilig, und die Missionspräsidentschaft fand es schwierig, dagegen mit einer Reihe junger männlicher Missionare anzugehen.

Als sich das Jahr 1897 dem Ende zuneigte, nahte die Zeit für die halbjährliche Konferenz in London. Die Heiligen aus London und Umgebung versammelten sich am 28. Oktober in der Stadthalle von Clerkenwell, um von ihren örtlichen Führern unterwiesen zu werden. Elizabeth McCune war unter denen, die an der Versammlung am Nachmittag teilnahmen. Die Halle war „gefüllt mit Heiligen und Fremden. Einige sehr angesehene Leute waren zugegen.“ Präsident Rulon S. Wells und sein Ratgeber Joseph W. McMurrin sprachen zu den Versammelten. Schwester McCune war von ihren Worten so bewegt, dass sie meinte, sämtliche Zuhörer müssten durch die Macht, die sich kundtat, bekehrt werden.

Präsident McMurrin sprach über „die niederträchtigen Lügen, die Jarman und seine Töchter so emsig in Umlauf gebracht hatten: dass die Mormonenfrauen in Utah hinter einer Mauer eingesperrt wären, dass sie unwissend wären und in erniedrigenden Umständen leben müssten“. Dann gab er zu Elizabeth McCunes Erstaunen bekannt: „Wir haben unter uns just in diesem Moment eine Dame aus Utah, die mit ihrem Mann und ihren Kindern ganz Europa bereist hat, und da sie von unserer Konferenz hörte, ist sie hier bei uns. Wir wollen Schwester McCune bitten, heute Abend zu sprechen und Ihnen von ihren Erfahrungen in Utah zu berichten.“10

Sie gab später freimütig zu, dass diese Ankündigung sie fast zu Tode erschreckt habe. Präsident McMurrin trug allen Anwesenden an, ihre Freunde zu der Versammlung am Abend einzuladen und „der Dame aus Utah“ zuzuhören. Schwester McCune sagte weiter: „Die Missionare versicherten mir, sie würden mich mit ihrem Glauben und ihren Gebeten unterstützen, und ich bat den himmlischen Vater obendrein selbst inständig um Hilfe und Beistand.“ Sie fügte bescheiden hinzu: „Innerlich sagte ich mir: ‚O, wenn wir doch nur eine unserer guten Sprecherinnen aus Utah hier hätten, damit sie diese großartige Chance ergreifen könnte. Wie viel Gutes könnte da erreicht werden!‘“11

„Die Dame aus Utah“

Als die Versammlung am Abend näher rückte, füllte die Halle sich allmählich. Der Berichtführer für die Konferenz vermerkte: „Trotz der Tatsache, dass die Halle zusätzlich bestuhlt und die Galerie geöffnet wurde, musste man Leute an den Türen abweisen.“12 Es hatte sich herumgesprochen; eine neugierige Menschenmenge war zusammengekommen, um die Dame aus Utah zu hören.

„Unsere Ehemänner sind stolz auf ihre Frauen und Töchter. Sie meinen nicht, diese wären einzig dazu erschaffen, Geschirr zu spülen und Babys zu hüten, sondern sie geben ihnen jede Gelegenheit, Versammlungen zu besuchen und Vorträge anzuhören und sich allem zu widmen, was ihre Bildung und Weiterentwicklung fördert. Unsere Religion lehrt uns, dass Mann und Frau Seite an Seite stehen.“

Elizabeth McCune

Schwester McCune berichtete: „Ich betete ein letztes Mal, bevor ich mich erhob, um zu den Versammelten zu sprechen. … Ich erzählte ihnen, dass ich in Utah aufgewachsen war und fast jede Ecke des Landes kannte und die meisten seiner Bewohner. Ich berichtete von meinen ausgedehnten Reisen in Amerika und Europa und erklärte, dass ich nirgends Frauen gefunden hatte, die so sehr geschätzt wurden, wie unter den Mormonen in Utah.“

Sie fuhr fort: „Unsere Ehemänner sind stolz auf ihre Frauen und Töchter. Sie meinen nicht, diese wären einzig dazu erschaffen, Geschirr zu spülen und Babys zu hüten, sondern sie geben ihnen jede Gelegenheit, Versammlungen zu besuchen und Vorträge anzuhören und sich allem zu widmen, was ihre Bildung und Weiterentwicklung fördert. Unsere Religion lehrt uns, dass Mann und Frau Seite an Seite stehen.“33

Elizabeth McCunes Anwesenheit und ihre Worte hatten eine elektrisierende Wirkung. Diese schlichte Rede einer Mormonenfrau trug mehr dazu bei, den Makel zu beseitigen, der durch Jarman an der Kirche haftete, als die allergrößten Bemühungen der Missionare. Nach der Versammlung kamen mehrere Fremde auf sie zu. Einer sagte: „Wenn noch mehr von Ihren Frauen hierherkämen, würde eine Menge Gutes zuwege gebracht.“ Ein anderer meinte: „Ich habe mir schon immer von Herzen gewünscht, eine Mormonenfrau zu sehen und sie sprechen zu hören. Meine Dame, aus Ihrer Stimme und Ihren Worten erklingt Wahrheit.“14 Schwester McCune sagte später darüber: „Diese Begebenheit öffnete mir die Augen dafür, welch großartiges Werk unsere Schwestern tun könnten.“

Präsident McMurrin, der die Auswirkung dieser Versammlung genau beobachtet hatte, lud Elizabeth McCune ein, ihn zu der Konferenz in Nottingham am darauffolgenden Sonntag zu begleiten. Außer ihr sprach in Nottingham auch ihr Sohn Raymond. Schwester McCunes Thema lautete: „Die Lebensumstände der Bevölkerung von Utah“15 . Später berichtete sie: „Danach wollte jede Gemeinde, dass ich komme und bei ihren Versammlungen spreche. Sie sagten, ihre Räume würden sich füllen, wenn ich das täte.“16

Weil ihre Abreise nach Italien kurz bevorstand, hatte sie keine weitere Gelegenheit zu sprechen, doch der Same war gesät. Präsident McMurrin war überzeugt, dass Schwester McCunes Bemühungen „dafür gesorgt [hatten], viele Vorurteile auszuräumen“. Er schrieb seinen Brief an die Erste Präsidentschaft, kurz nachdem die McCunes abgereist waren. In weiteren privaten Briefen aus Großbritannien an Führer der Kirche in Utah klang dieselbe Botschaft an, nämlich „wie gewichtig die Zeugnisse von Damen aus Utah in diesem Land“ seien und wie sie dazu beitrügen, dass „alte irrige Vorstellungen“ einer ausgewogeneren Sichtweise wichen17

Der Plan wird umgesetzt

Die Entscheidung der Ersten Präsidentschaft, Missionarinnen zu berufen, fiel am 11. März 1898. In den Wochen danach sprach sich dies allmählich herum. Anlässlich eines Empfangs für den Hauptausschuss der Gemeinschaftlichen Fortbildungs-Vereinigung Junger Damen und Junger Männer gab Präsident George Q. Cannon bekannt: „Es wurde beschlossen, einige unserer klugen und besonnenen Frauen auf Mission zu berufen.“18 Er berichtete außerdem, dass Elizabeth McCune und andere dazu beigetragen hatten. Auch Joseph F. Smith erzählte den Führungsbeamtinnen der Jungen Damen von einem großartigen Werk, das die Töchter Zions vor sich hatten19

„Es wurde beschlossen, einige unserer klugen und besonnenen Frauen auf Mission zu berufen.“

George Q. Cannon
Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft

Bei der Frühjahrs-Konferenz 1898 gab Präsident Cannon einer breiteren Zuhörerschaft aus den Reihen der Kirche die Entscheidung bekannt, regelmäßig Missionarinnen zu berufen. Er berichtete von einer Frau, die „so erfreut war, eine unserer Schwestern kennenzulernen – eine intelligente Frau, die auch nicht so aussah, als wäre sie eine arme, unterdrückte Sklavin –, dass sie sich der Kirche anschloss. Zweifelsohne lag dies an der Tatsache, dass sie festgestellt hatte, dass die Damen in ihrem Einflussbereich ebenso intelligent, respektabel und kultiviert waren wie die Herren in dem ihrigen.“ Präsident Cannon merkte an, diese Schwestern könnten zwar keine heiligen Handlungen vollziehen, doch „sie können Zeugnis geben, sie können unterweisen, sie können Traktate ausgeben, und sie können sehr vieles tun, was dazu beitragen wird, das Evangelium des Herrn Jesus Christus zu verbreiten“20

Am 1. April 1898 wurden Amanda Inez Knight und Lucy Jane Brimhall als die ersten alleinstehenden, schriftlich autorisierten Missionarinnen in der Geschichte der Kirche eingesetzt. Sie wurden beide der Europäischen Mission zugewiesen und gingen binnen drei Tagen nach ihrer Ankunft am 21. April daran, bei Zweigversammlungen, Straßenversammlungen und Konferenzen zu sprechen – angekündigt als „echte Mormonenfrauen“. Sie erfüllten insbesondere die Aufgabe, mit „Fremden zusammenzukommen, die seltsame Vorstellungen von unseren Leuten hatten“21. Schwester Knight und Schwester Brimhall waren die ersten von Zehntausenden Frauen, die so als Missionarinnen tätig waren, wie es heute noch üblich ist.

Elizabeth McCune sollte in den kommenden Jahren noch weitere Gelegenheiten erhalten, Missionsarbeit zu betreiben.22 Später schilderte sie das, was sie als Vorläuferin erlebte23, so: „Wenn ich im Ausland war, hatte ich immer den brennenden Wunsch im Herzen, den Kindern unseres himmlischen Vaters das zu geben, was ich als Wahrheit erkannt hatte. Wann immer ich jemanden besuchte und Gelegenheit hatte, mich mit den Leuten zu unterhalten, kam ich auf dieses Thema zu sprechen, das in meinen Augen am allerwichtigsten ist. Oftmals durfte ich das Evangelium Menschen verkünden, die noch nie zuvor davon gehört hatten. Ich fragte mich manchmal: ‚Warum empfinde ich denn so? Ich bin doch kein Missionar!‘ Eines Tages sagte ich zu meiner Tochter, dass ich glaubte, die Zeit sei nicht mehr fern, da Frauen auf Mission berufen werden würden. Ich hatte häufig das Gefühl, wenn ich ebenso von Gott beauftragt wäre, wie die jungen Männer es waren, hätte ich in jedes Haus gehen und mit den Menschen in Ruhe ein Gespräch über Religion in Gang bringen können und dabei jedem von ihnen aufrichtig Zeugnis gegeben.“24